Tim hört sich jeden Song des Popwunders aus L.A. an und dokumentiert seine Reaktionen. Die Geschichte einer Konversion.
Jede Generation hat ihre Musik. Und das ist auch gut so. Denn jede neue Kohorte von Kids wächst mit einem anderen Lebensgefühl auf, das sich seine eigenen Ausdrucksformen sucht. Da den Älteren der direkte Zugang zu diesem Gefühl fehlt, bleiben ihnen nur zwei Möglichkeiten, mit der neuen Musik umzugehen: Entweder sie spielen die old guy Nummer und klagen über den musikalischen Sittenverfall oder sie bleiben neugierig und versuchen, den neuen Sound zu verstehen.
Ich bin hier für Option zwei.
Was Billie Eilish angeht, kam ich late to the party – wie es sich für einen Vierzig-Plusser gehört, wenn es um Jugendpopkultur geht. Irgendwann war der Name dann aber doch oft genug gefallen, um in ihre Musik reinzuhören. Der erste Eindruck war: OK, what’s the big deal? Der Sound war für mich nicht interessant genug, um den Hype zu rechtfertigen, der Eilishs Namen wie eine Flaschenpost sogar bis an meine einsame Musikinsel gespült hatte.
Interessierter war ich an Billie Eilishs Selbst-Präsentation und ihrem Weg ins Musikbusiness. Doch was ich gehört hatte, stellte sich schnell als Mythos heraus: Ich hatte abgespeichert, dass sie sich auf Soundcloud einen Namen gemacht und der Musikindustrie eine Nase gedreht hatte. Wie so oft bei Mythen ist an der Geschichte was Wahres dran; aber dass sie sehr früh von Apple und Spotify promotet und ins Rampenlicht geschoben wurde, wird mir erst jetzt klar.
Ähnlich mit ihrem Modegeschmack: Ich fand es großartig, dass eine junge Künstlerin sich dem Tittytainment der Musikindustrie entzog und den Fokus statt auf ihr Aussehen auf die Musik lenkte. Was für ein gutes Vorbild, dachte ich, You Go Girl! …ohne zu dem Zeitpunkt zu wissen, dass ihr Style von einem ganzen Team von PR-Leuten geschaffen wurde, inklusive Kooperationen mit Chanel, Calvin Klein und Co. Nun bin ich kein Antikapitalist und mache ihr daraus keinen moralischen Vorwurf. Lehrreich war für mich nur, wie gut auch bei mir das Marketing als authentisch-rebellisches Jugendgenie funktioniert hatte.
Das Billie Eilish Phänomen kommt nicht von den Rändern des Popbusiness, aus dem Untergrund oder der Peripherie. Es kommt aus dem Zentrum: L.A., Kalifornien, Eltern im Showbusiness, Kinder von früh auf auf Entertainment geeicht. Und nochmal: warum auch nicht?
Selbstversuch: Ich höre jeden Billie Eilish Song
OK, aber jetzt mal Butter bei die Fische: Was macht Billie Eilishs Musik so besonders, und warum ist sie damit so erfolgreich? Ich fange ganz von vorne an:
Ocean Eyes: Dieser Song bringt den Stein ins Rollen. Eilish nimmt ihn mit ihrem Bruder Finneas auf, sie ist gerade mal vierzehn. Der Song nimmt geschickt mehrere Strömungen der Popmusik auf und kombiniert den elektronischen Minimalismus, der seit Kanye die Bühne beherrscht, mit einem verletzlichen Dreampop, der auch vor Billie Eilish vor allem für Sängerinnen schon angesagt war. Auch der Kunstgriff, den Refrain verletzlicher klingen zu lassen als sie Strophe – statt wie so oft im Pop den Song im Refrain kräftiger und hymnischer zu machen – ist nicht neu. Für eine Vierzehnjährige ist die vocal performance aber schon ziemlich geschliffen, und der Refrain hat unabweisbare Ohrwurm-Momente. Alright, alright, alright, wie Denzel Washington sagen würde…
Six Feet Under: Ziemlich konventionell. Hätte man auch beim Eurovision Song Contest hören können. Vor allem diese zweite (Männer-)Stimme mit Delay im Refrain klingt eher nach Zucchero als nach der Zukunft des Pop.
Bellyache: Hier höre ich zum ersten Mal die charakteristische Flüsterstimme. Der Song ist schön produziert und hat auf jeden Fall Hook-Momente. Es ist ein Geheimnis des Pop, wie seine Evolution über minimale Variationen voranschreitet. Nichts an diesem Song beeindruckt mich besonders, aber ich sehe trotzdem das Hit-Potenzial. Was mich interessiert, ist dieses understatement, dieses Zurückhaltende, Innerliche; diese Kompressor-Vocal-Harmonien für die Generation, die wahrscheinlich erstmals in der Geschichte des Pop mehr Musik über Kopfhörer hört, als über Boxen.
Bored: Sehr schön produziert. Die Minimal-Percussion gefällt mir, was immer das auch für ein Sound ist. Dafür finde ich die Melodien in diesem Song ziemlich …boring? Bleibt bisher am wenigsten hängen.
watch: Sehr schöne Idee, ein Streichholz als beat maker einzusetzen. Der Song? Verdammt, I don’t get it. Also doch old guy Lamento anstimmen?
Copycat: Die Melodie könnte von Fiona Apple sein. Der bedrohlichste Song bisher. Zum ersten Mal taucht eine zarte Referenz an trap music auf. Irgendwas erinnert mich auch an Lady Gaga, aber was?
idontwannabeyouanymore: Zum ersten Mal wird es ein bisschen soulig. Der Beat klingt wie etwas, was man auf Frank Oceans Orange hätte hören können. Es schleicht sich das Gefühl ein, dass alle Songs im Refrain das gleiche Stimmenregister bedienen. Ich glaube, ich mag Billies tiefe Register lieber, als die höheren.
myboy: oh, jetzt plötzlich ein Scat-Einstieg! Tempowechsel! Yes, Girl! Das Arrangement ist zugleich hyperaktiv und minimalistisch. Dazu braucht’s schon einiges Producertalent. Und was heißt eigentlich vocal fry auf Deutsch? Knarzen? Stimmbrutzeln?
Party favor: Ukulele, Anrufbeantworter, Glockenspiel, so’n hüpfender Lemon-Tree Vibe. Ja, kann man machen.
hostage: Langsam stellt sich der Verdacht ein, dass ich es hier mit einer Sammlung von Schlafliedern zu tun habe. Die Musik beginnt mich neurotisch zu machen: Ich kaue an den Fingern, die Beine werden zappelig, die Nase juckt. Wer kann soviel Stille und Innerlichkeit aushalten? Kann hier bitte jemand mal auf die Pauke hauen? I feel like a hostage, Stockholmsyndrom nicht in Sicht. Verzerrer an! Bitte wenigstens eine snare drum!! Irgendeinen Kick…!!!? ICH BIN HIER DRIN! HOLT MICH HIER RAUS!!!
Ruhe bewahren und YouTube-Video schauen. Im Interview zeigt Billies älterer Bruder und Producer Finneas ihr Heimstudio im Haus ihrer Eltern. Sehr sympathisch. Und jetzt wird mir einiges klar: Die Songs entstehen im mit Gerümpel voll gestellten Kinderzimmer. Und Billie sitzt, wenn sie den Gesangspart aufnimmt, im Schneidersitz auf dem Bett. Deshalb also der super innerlich und intim wirkende Sound. Und deshalb vielleicht auch das Stimmbrutzeln und Flüstern, denn im Sitzen können die Stimmbänder nicht frei schwingen und wahrscheinlich führt Mama nebenan gerade ein wichtiges Telefonat. Also weiter im Text:
&burn (feat. Vince Staples): Da sind die Streichhölzer wieder. Drop it like it’s hot. Wieder beeindruckt von der minimal-kreativen Produktion. Neues Element: Das Rap-Feature. „We all been found guilty in the court of aorta“. Naja. Wieder ein Song, bei dem ich denke: Das ist sehr toll gemacht, sehr kreativ produziert, aber was die Melodie betrifft ein bisschen belanglos.
bitches broken: Ich mag die field recordings im Hintergrund sehr. Geräusche aus einem überfüllten Coffee Shop in L.A. Das kontrastiert sehr schön mit der klaustrophoben Stimmung von Billie Eilishs Songs. Plötzlich öffnet sich ein Wir und schließt sich dann sofort wieder. Ist das vielleicht das Lebensgefühl, das Billie Eilish trifft? Die Kopfhörer-und-cell-phone-Existenz der digital natives, für die Einsamkeit nicht der Ausnahme- sondern der default-Zustand ist?
lovely (feat. Khalid): Sehr schöne Ballade. Punkt.
When We Fall Asleep, Where Do We Go?
So, jetzt sind wir beim mit Preisen nur so überhäuften Debütalbum „WHEN WE ALL FALL ASLEEP, WHERE DO WE GO?“ angekommen:
you should see me in a crown: Ich denke die ganze Zeit: RAUM. Da ist soviel RAUM in diesen Songs! Starke Melodie, sowohl in der Strophe als auch im Refrain, der wie ein Prodigy-Song unter Narkose klingt. Die Silberspinnen auf der Krone im Video sind genial. Wenn dass das Video ist, wer weiß?!
When the Party’s over: Kirchenchor, a-capella Anfang. Billies Stimme glänzt wirklich hier. OK, ich mag das hohe Register doch… Wieder eine tolle Melodie! Hier ist ein sehr guter Songwriter am Werk, so viel ist spätestens jetzt klar. Das Spiel mit der Stille ist hier nicht mehr so klaustrophobisch. Liegt vielleicht am Chor und dem Klavier, die einen größeren Raum evozieren als Billies Kinderzimmer. Sehr schönes Lied, und das Video ist visuell sehr stark. Langsam kommt das Gesamtkunstwerk Billie Eilish in den Blick…
come out and play: Eine Gitarre! Zart. Besaitet. Jetzt singt Billie schon fast im Coffee Shop, Singer-Songwriter Style. Hat sie das Kinderzimmer verlassen? Nach und nach ziehen im Hintergrund elektronische Soundwolken auf. Ja, nett. Mehr nicht.
When I was older: Autotune! Macht Billies Stimme nicht besser. Der treibende, wenn auch subtile Bass-Beat ist ein neues Element. Darüber ein aufs Nötigste reduzierter 808-Beat. Will diese Frau nie schreien?? Billie Eilish bleibt bei ihrer Flüsterdisziplin.
bury a friend (feat. Crooks): Wieder Autotone, diesmal funktioniert es besser. Die Horrorfilm-Soundschnipsel (inklusive Bohren beim Zahnarzt) sind ziemlich stark, das Video nimmt das auf. „I want to end me“ klingt nach einer Menge teenage angst und düsteren sexuellen Erfahrungen. Der Song beginnt mit dem Refrain, der wieder eine schöne, kaskadenhafte Melodie hat, wie ich sie jetzt schon öfter in Billies Katalog gehört habe. Das reduzierte „Feature“ funktioniert ziemlich gut. Textlich der für mich interessanteste Song bisher. Finneas und Billie erklären die Entstehung des Songs hier.
wish you were gay: Wenn We Will Rock You, Bad Romance und Gwen Stefani ein Baby hätten…
bad guy: Der große Hit. Ein reduzierter Dance Beat, darüber der stockend performte Gesang. Erstaunlich, wie tanzbar das ist, trotz der Reduktion und dem wieder präsenten RAUM. An was erinnert mich der Refrain?? Hat fast einen Touch von Klezmer…
i love you: Schöne, auf- und absteigende Melodie in der Strophe. Hat man alles schonmal gehört, aber nicht so super-intim wie hier. Wieder ein Song, der sich kaum aus der Stille erhebt, wahnsinnig behutsam instrumentiert. Der Refrain erinnert an Leonard Cohens Hallelujah.
xanny: Jazzy brush drums. Auch ein Klavier klimpert im Hintergrund. Dann plötzlich ein knarzender Synthiebass. Der Song bringt die verschiedenen Zutaten täuschend locker-leicht zusammen. Am Schluss gibt es nochmal in einen ganz kurzen a-capella Teil. Der Mut zur Stille beeindruckt mich ein ums andere Mal. Ist Billie Eilish das Gegengift gegen den digitalen overload der jungen Generation? Ihre Peers halten sich mit Alkohol und Xanax über Wasser; aber Billie geht lieber unter bis sie in die absolute Stille gesunken ist.
all the good girls go to hell: einer der konventionelleren Tracks. „Hills burn in California“ – dieser Song ist das Teufelchen zu Greta Thunbergs Engelchen.
8: Bin kein Fan der gepitchten Stimme, aber wie der Pitch später im Song rein- und rausgefaded wird ist spannend. Ukulele. 08/15-Akkordfolge. Forgettable.
my strange addiction: Das you’re bad for me but I kinda like it Motiv kennt man aus vielen anderen Songs. Ich mag den Track, aber er haut mich nicht um. Oder bin ich inzwischen übersättigt von Eilishness?
ilomila: Billie-Minimalismus vom Feinsten! Das Video ist großartig und transportiert wunderbar dieses In-die-Stille-Sinken von Eilishs Musik. Die Art, wie die hüpfenden Videospiel-Synthiesounds den Song tragen und mit dem Gesangs-Tremolo und den Glockenspielmelodien verschränkt werden, ist brilliant.
listen before i go: Klavierballade. Wie die field recordings (Kinderlaute, Regen, Donnern, Sirenen) wie kleine Soundtupfer auf den Song gesprenkelt werden ist gänsehautwürdig. Popsong und Klanginstallation zugleich. Künftige Generationen werden diese Song im Museum hören.
goodbye: chorisch-geisterhaftes Outtro für das Album, das nochmal Melodie-Versatzstücke mehrerer Songs aufnimmt. Sehr schönes Bonbon zum Schluss.
everything I wanted: „I tried to scream/But my head was underwater“ – wieder will Billy versinken, diesmal geht es explizit um Suizid: „Thought I could fly/So I stepped off the Golden“ (gemeint ist die Golden Gate Bridge in San Francisco). Eingängig, mit einem subtilen Dance-Beat, der selbst klingt wie unter Wasser getaucht. Nicht Billies stärkster Song, aber trotzdem berührend.
Der Bond-Song von Billie Eilish
No Time To Die: Haja, passt scho. Billie gerührt, nicht geschüttelt.
Mein Fazit
OK, Leute. Nach einem kurzen Hänger zwischendurch muss ich sagen: I converted to the church of Billie. Vor allem das Album verdient den ganzen Ruhm, den es bekommen hat. Popmusik entwickelt sich immer dadurch weiter, dass bekannte Elemente neu gemischt werden. Aber ab und zu gibt es Künstler, deren Werk wie ein Kaleidoskop aus diesen Elementen eine ganz neue Form machen. Und das ist Billie und Finneas eindeutig gelungen.
Besonders beeindruckt bin ich von dem Spiel mit der Stille, dass sich durch fast alle Songs zieht. Finneas ist als Produzent wirklich ein Maler, der mit geradezu unglaublicher Sicherheit minimal-brilliante Soundcollagen tupfelt. Plus die oft starken Melodien plus Billies charakteristische und super-intime Stimme.
Den appeal von Billie als Teenie-Idol verstehe ich jetzt auch besser. Da ist zum einen die sehr gute Story von dem frühreifen Talent, dass von den Eltern zuhause alle kreative Freiheit kriegt und mit dem großen Bruder Welthits im Kinderzimmer aufnimmt. Da sind die klassischen Pop-Themen von unerfüllter, übererfüllter und bedrohlich-anziehend-körperlicher Liebe und die in den me-too-Moment passende Selbstdarstellung, die sich der sexy-girl-Pop-Frauenrolle entzieht. Und da ist die unglaublich intensive Zuhause-auf-dem-Bett-mit-Kopfhörer-Klaustrophobie der iGeneration, für die immer unklarer wird, wie eine authentische soziale Identität außerhalb des digitalen Nebels überhaupt aussehen könnte. Für diese Klaustrophobie hat Billies Musik eine Form gefunden; und zugleich haben die Songs einen minimalistischen Fokus, der eine Befreiung vom digitalen Overload verspricht.
Ich bin sehr gespannt, wie Billie und Finneas weiter machen, was sie an anderer Musik inspirieren werden (etwas nervös erwarte ich mindestens 50 weniger talentierte Adepten und Adeptinnen…) und ob sich eine Gegenbewegung zeigen wird, die aus dem intim-minimalistischen Raum ausbricht und wieder mehr Aggression in den Pop bringt.
(Photo credit: www.universal-music.de/billie-eilish/fotos/ Kenneth Cappello)